Die Anatomie der Balance

Pelvic incidence

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Für das Verständnis degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates und insbesondere der Wirbelsäule ist es essentiell, dass man sich mit den besonderen anatomischen Herausforderungen der Balancierung beim Zweibeiner auseinandersetzt. Während das Balancierungs-Spiel in der Peripherie (Sprunggelenk, Knie) durch Dynamik gekennzeichnet ist (Muskelaktionen zur Balancierung, siehe vorheriges Kapitel), wird in der Nähe des Körperschwerpunktes die Stabilität des Stands und Gangs durch die individuelle statische Anatomie vorherbestimmt.

points for upright posture
Abbildung 1: Die Anatomie der aufrechten Position wird wesentlich durch die Lagebeziehung von Hüftgelenksmittelpunkt und hinterer Beckenanatomie (Sakrum) bestimmt.

Wie in Abbildung 1 zu erkennen ist, sind es lediglich die Lagebeziehungen der Verbindungspunkte von oberem Ende der unteren Extremität (Hüfte) und unterem Wirbelsäulenende (Deckplatte des Kreuzbeins), die über die individuelle anatomische Umsetzung des aufrechten Gangs entscheiden.

Pelvic incidence
Abbildung 2: Das Verhältnis von Sakrum-Deckplatten-Senkrechter zum Hüftmittelpunkt lässt sich als Pelvic incidence (PI) ausdrücken.

Die Pelvic incidence ist ein anatomisches Merkmal und ist beim ausgereiften Skelett festgelegt. Sie entscheidet über den weiteren individuellen Aufbau der Wirbelsäule (Abbildungen 3+4).

relationship between pelvic incidence and lumbar lordosis
Abbildung 3: Die lumbale Lordose (LL) ist komplementär zur Pelvic incidence und in einer Spanne von bis zu +10° gleich.
Abbildung 4: Die Lage des unteren Lordosescheitels (L3-5) und des Umkehrpunktes (=Inflexion point, L3-Th12) sind wirbelsäulenchirurgisch wichtige Bezugspunkte.

Entsprechend dieses Konstruktionsprinzips lassen sich vier anatomische Typen nach Roussouly klassifizieren (siehe Tabelle 1).

Roussouly TypPelvic incidencemittlere lumbale LordoseLordose-scheitelInflexion point
1<45°45°L5L3
2<45°50°L4/5L2
345°-60°55°L4L1
4>60°65°L3/4Th12
Tabelle 1: Roussouly Typen und anatomische Charakteristika

Diese Charakteristika stellen ein idealtypisches individuelles Muster für die Ausgestaltung des aufrechten Gangs dar. Die Überschreitung dieser anatomischen Normen zur einen oder anderen Richtung kann dabei unterschiedliche pathogenetische Konsequenzen für verschiedene Erkrankungen haben:

Für den Wirbelsäulenchirurgen ist ein Verständnis der Parameter wichtig, um die Lastverhältnisse an Bandscheiben und Facettengelenken einschätzen zu können und um andererseits Notwendigkeiten von Korrekturen zu erkennen bzw. Korrekturoperationen auch korrekt planen zu können.

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