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Der aufrechte Gang bringt das Problem mit sich, dass relativ viel Körpermasse auf einer eher instabilen Basis (2 Beine) mit möglichst wenig Kraftaufwand gehalten werden muß. Diese „Haltung“ ist jedoch ein höchst dynamischer Vorgang und erfordert eine stetige Neujustierung der Gewichtsverteilung. Technisch sieht man das zum Beispiel auch bei Segways – hier ist eine permanente Motoraktion zur Rebalancierung erforderlich, um den Fahrer aufrecht zu halten.
Für die Extremitätengelenke bedeutet dies ein dynamisches Wechselspiel zwischen Agonisten und Antagonisten. Die Energie-effizienteste dieser Dynamik bezeichnen wir dabei als Verriegelungszustand (z.B. durchgestrecktes Kniegelenk). Kommt es jedoch zur Störung der Balance (z.B. Heben des Armes), wird erneut Muskelaktivität erforderlich (z.B. Peronäusgruppe).
Im Rumpfbereich findet eine andauernde Verlagerung des Masse-Mittelpunktes um ein Zentrum statt – dies wird im angelsächsischen Raum auch als Cone Of Economy (COE) beschrieben. Dabei ist die Amplitude zwischen links und rechts in der Regel größer als zwischen vorn und hinten. Der COE ist individuell verschieden und ein chaotisches System dahingehend, dass die Bewegungen nicht linear vorhergesagt werden können. Dies hat den Vorteil, dass auf zufällig auftretende Störereignisse (plötzliches Umwenden zu einem Reiz, Stolpern, etc.) sehr effektiv reagiert werden kann. Die Reaktion auf das Störereignis erfolgt immer aus einem anderen Ausgangszustand heraus und der Körper ist gezwungen, eine dynamische Antwort zu erzeugen. Diese Fähigkeit wird früh in der Kindheit gelernt – das erfolgreiche Lernergebnis kann man in der Individualität des COE beobachten.
Der COE wird bei krankheitsbedingter Störung des Lotaufbaus herausgefordert. Deutlich wird dies bei nahezu allen neurodegenerativen Erkrankungen (z.B. M. Parkinson, Ataxien, Demenz). Charakteristisch ist dabei, dass das Kopf-Lot nicht über den Körpermittelpunkt zentriert wird, sondern vor die Füße fällt. Damit ist der individuelle COE verlassen und die aufrechte Haltung wird zu einem energetisch kostspieligen Unterfangen. Erstes Symptom dafür sind Rückenschmerzen, Myogelosen in der Rückenmuskulatur, etc. In fortgeschrittenen Stadien wird es für die Patienten dann auch zum Problem, längere Wegstrecken zurückzulegen, da auch der aufrechte Gang nicht mehr ökonomisch abläuft.
Aus dem orthopädischen Gebiet kennen wir derartige Haltungsstörungen bei Kontrakturen der unteren Extremitäten und natürlich bei nahezu allen Wirbelsäulenerkrankungen. Wir reden hier von einer zunehmenden Kyphosierung, durch:
- Bandscheibenvorfall/-degeneration. Durch den Höhenverlust der Bandscheibe und gleichbleibender Höhe der dorsalen Elemente (Facettengelenke) kommt es zwangsläufig zur Kyphosierung.
- Spinalstenose. Foraminale und spinale Engen zwingen zur Kyphosierung, um intraspinale Reserveräume zu erschließen. Ansonsten droht die Kompression der Spinalnerven (Schmerz, Funktionsausfall)
- Wirbelkörperfraktur. Analog zur Bandscheibendegeneration kommt es durch den Höhenverlust der ventralen Struktur (Wirbelkörper) gegenüber den dorsalen Elementen (Facettengelenke) zur Kyphosierung.
- M. Bechterew. Die entzündliche Enthesiopathie der Längsbänder führt immer zur Längenreduktion ventral und damit zur Kyphosierung.
Eine Sonderstellung nehmen die Skoliosen ein. Die idiopathische Skoliose ist eine Wachstumserkrankung des Jugendlichen. Pathogenetisch überwiegt in den meisten Fällen das Längenwachstum der ventralen Säule gegenüber den dorsalen Strukturen (Rückenmark, Wirbelbögen, Bänder), so dass es hier eher zur Lordosierung kommt. Bei der adulten de-novo Skoliose hingegen fußt die Pathogenese auf den vorangehend beschriebenen Degenerationsprozessen, so dass auch hier Kyphosen anzutreffen sind.
Die Kyphosierung kann balanciert bleiben, d.h. es gelingt dem Patienten, das Massezentrum des Rumpfes im Lot zu halten, oder es kommt zur sagittalen Dekompensation. Zusätzlich zeichnen sich Skoliosen (idiopathische und adulte) durch das mögliche Vorhandensein einer zusätzlichen coronalen Imbalance (rechts/links) aus. Es konnte nachgewiesen werden, dass derartige Wirbelsäulendeformitäten immer mit einer erhöhten Muskelaktivtät (Erector spinae, Gluteus) und einer vergrößerten Amplitude des COE verbunden sind (Haddas et al. „A method to quantify the cone of economy“ Eur Spin J 2018). Symptomatische (schmerzhafte) Lotdekompensationen sind Ausdruck eines Teufelskreises aus muskulärer Überbeanspruchung bei zusammengebrochener Homöostase des COE und bedürfen in der Regel einer korrigierenden Behandlung.