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Die Wahl der operativen Versorgungsstrategie bei adulter Wirbelsäulendeformität hängt von vielen Variablen ab. Kerngedanke der Entscheidungsfindung ist die Frage, ob ein (generell zu favorisierendes) kurzstreckiges Vorgehen ausreicht, oder ob einem langstreckigen Verfahren (>3 Segmente) der Vorzug zu geben ist. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die Lagebeziehung des/der symptomatischen Segments/Segmente zur Deformität und ob es dem Patienten postoperativ möglich sein wird, wieder in seinen Cone of Economy zurückzukehren.
Beispiele
- monosegmentale Stenose oder Pseudospondylolisthese L4/5 mit sagittaler Dekompensation aufgrund der Stenose → Re-Alignment nach monosegmentaler Dekompression wahrscheinlich, daher nur Adressierung des symptomatischen Segments
- monosegmentale Stenose in nicht progredienter adulter Skoliose → nur Versorgung des symptomatischen Segmentes
- L5-Schmerz mit Neuroforamenstenose L5/S1, Pseudospondylolisthese L4/5 und progredienter degenerativer Skoliose darüber → möglicherweise langstreckiges Vorgehen mit Fusionierung des lumbosakralen Übergangs erforderlich
Bewertung der globalen Wirbelsäulenstatik
Hilfreich ist hier die Klassifikation von Berjano und Lamartina1Berjano P, Lamartina C. Classification of degenerative segment disease in adults with deformity of the lumbar or thoracolumbar spine. Eur Spine J. 2014 Sep;23(9):1815-24. doi: 10.1007/s00586-014-3219-9. Epub 2014 Feb 23. PMID: 24563272.
Berjano-Typ | chirurgisches Problem | chirurgische Lösung |
---|---|---|
1 (balanciert) | symptomatisches Segment liegt außerhalb der Deformität | Deformität nicht beachten |
2 (balanciert) | symptomatisches Segment liegt im Apex der Deformität | kurzstreckige Fusion des Apex (mono-/bisegmental) |
3 (balanciert) | viele symptomatische Segmente mit Bezug zur Deformität | langstreckiges Vorgehen, möglicherweise Einbezug des lumbosakralen Übergangs |
4 (Imbalance) | symptomatische Imbalance der LWS, Mismatch von lumbaler Lordose und Pelvic incidence > 25° | langstreckige Korrekturspondylodese |
Typ 1 – Segment außerhalb der Deformität

Typ 2 – Segment(e) innerhalb der Deformität

Typ 3 – viele symptomatische Segmente

Typ 4 – Imbalancierte symptomatische LWS

Modifikation von Strategie und Technik
Chirurgie lebt davon, dass sie nur in ausgewählten Fällen nach Lehrbuch angewendet werden kann – für die Wirbelsäulenchirurgie trifft dies genauso zu, in besonderem Maße jedoch für die Deformitätenchirurgie. Die Indikationsstellung für korrigierende Eingriffe bei adulter lumbaler Skoliose sollte streng erfolgen, da hier mit nicht unerheblichen Komplikationen gerechnet werden muss. 3Kelly MP, Lurie JD, Yanik EL, Shaffrey CI, Baldus CR, Boachie-Adjei O, Buchowski JM, Carreon LY, Crawford CH 3rd, Edwards C 2nd, Errico TJ, Glassman SD, Gupta MC, Lenke LG, Lewis SJ, Kim HJ, Koski T, Parent S, Schwab FJ, Smith JS, Zebala LP, Bridwell KH. Operative Versus Nonoperative Treatment for Adult Symptomatic Lumbar Scoliosis. J Bone Joint Surg Am. 2019 Feb 20;101(4):338-352. doi: 10.2106/JBJS.18.00483. Erratum in: J Bone Joint Surg Am. 2019 Dec 18;101(24):e138. PMID: 30801373; PMCID: PMC6738555.
Folgende Punkte müssen Berücksichtigung finden:
- Lage der Fusionsenden:
- proximal: nicht in den Apex, weder von Kyphose noch Skoliose. Treffe ich den individuellen inflexion point und minimiere dadurch das Risiko mechanischer Probleme?4Pizones J, Moreno-Manzanaro L, Sánchez Pérez-Grueso FJ, Vila-Casademunt A, Yilgor C, Obeid I, Alanay A, Kleinstück F, Acaroglu ER, Pellisé F; ESSG European Spine Study Group. Restoring the ideal Roussouly sagittal profile in adult scoliosis surgery decreases the risk of mechanical complications. Eur Spine J. 2020 Jan;29(1):54-62. doi: 10.1007/s00586-019-06176-x. Epub 2019 Oct 22. PMID: 31641904. Schrauben weg von der Deckplatte, proximale Facettengelenke und Weichteile schonen.
- distal: keine Lyse/Listhese direkt unterhalb des Fusionsendes akzeptieren. Ist meine Instrumentierung auf L5 bzw. S1 stabil genug oder drohen hier Frakturen bzw. Auslockerung → ist Ilium die Lösung (aber auch höhere Komplikationsraten)?
- Keine Dekompressionen im Anschluß an Fusionskonstrukte → signifikant höhere Rate an Anschlussdegenerationen 5Mesregah MK, Yoshida B, Lashkari N, Abedi A, Meisel HJ, Diwan A, Hsieh P, Wang JC, Buser Z, Yoon ST; AO Spine Knowledge Forum Degenerative. Demographic, clinical, and operative risk factors associated with postoperative adjacent segment disease in patients undergoing lumbar spine fusions: a systematic review and meta-analysis. Spine J. 2022 Jun;22(6):1038-1069. doi: 10.1016/j.spinee.2021.12.002. Epub 2021 Dec 9. PMID: 34896610.
- 2- vs- 4-Stab-Konstrukte. Insbesondere bei höherem Korrekturausmaß lumbosakral und Revisionen.
- zu erwartende Einschränkungen postoperativ. Insbesondere bei langstreckigen Konstrukten kann die Analhygiene erschwert sein. Der dann vom Patienten forciert angestrebte Mobilitätsgewinn kann in einer proximalen Auslockerung enden.
Was machen die Hüften? Bringt die OP der Coxarthrose möglicherweise mehr Mobilitätsgewinn – ist sie vielleicht sogar die Lösung? - Komorbiditäten:
- M. Parkinson → Zurückhaltung in der Indikationsstellung, insbesondere bei weiteren Komorbiditäten, die sowohl mechanisch als auch infektiologisch Probleme bereiten können (Osteoporose, Diab. mellitus, Alkohol). Monosegmentale Lösungen suchen. Es ist ein stetiger Kampf gegen die Kyphose, kurzstreckige Verfahren scheitern.6Babat LB, McLain RF, Bingaman W, Kalfas I, Young P, Rufo-Smith C. Spinal surgery in patients with Parkinson’s disease: construct failure and progressive deformity. Spine (Phila Pa 1976). 2004 Sep 15;29(18):2006-12. doi: 10.1097/01.brs.0000138306.02425.21. PMID: 15371701.
- Osteoporose
- schlechter Ernährungszustand und Gebrechlichkeit → größte Indikationszurückhaltung, keine Korrektureingriffe
- Opiatgewöhnte Patienten. Generell schlechteres Outcome, aufgrund vielfältiger Effekte der Opiate. Ggf. vor der OP entwöhnen? → siehe Übersichtsartikel
- Herz (Stents), Lunge (COPD), Niere, etc. → siehe Übersicht zur OP-Vorbereitung
Die Kunst, individuelle OP-Ziele anzupassen und auf den Patienten einzugehen, Maximal-Chirurgie lieber zu vermeiden als zu ambitioniert auf ein schönes Röntgenbild hinzuarbeiten, wenn es biologische Faktoren nicht erlauben, wird über die zukünftige Rate der Komplikationen der Wirbelsäulenchirurgie bestimmen.