Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: English (Englisch) Deutsch
Unter dem Begriff der lumbalen Osteochondrose fassen wir degenerativ bedingte Veränderungen der Wirbelkörper-Endplatten zusammen. Ausgangspunkt sind mechanische Überlastungen, bedingt durch Bandscheibenschaden und -degeneration.
Auch Deckplattenveränderungen im Rahmen eines M. Scheuermann sind osteochondrotische Läsionen. Diese sind aber auf ein Ungleichgewicht zwischen Druckbelastung und Widerstandsfähigkeit der Endplatten während der Verknöcherung zurückzuführen. Sie werden hier nicht besprochen.
Natürlicher Verlauf
Tierexperimentell konnte duch Chymopapain-Injektion in gesunde Bandscheiben eine osteochondrotische Läsion nach ca. 6-12 Wochen gesehen werden.1Modic MT, Steinberg PM, Ross JS, Masaryk TJ, Carter JR. Degenerative disk disease: assessment of changes in vertebral body marrow with MR imaging. Radiology. 1988; 166(1): 193-199. doi:10.1148/radiology.166.1.3336678
Das akute Stadium entspricht einem Knochenmarködem im angrenzenden Wirbelkörperendplattenbereich, welches in einem Zeitraum von 1-3 Jahren fettig konvertieren kann und somit zur Ausheilung kommt. Das Durchschreiten dieser Stadien lässt sich kernspintomografisch als sogenannte MODIC-Veränderungen abbilden 2Modic MT, Masaryk TJ, Ross JS, Carter JR. Imaging of degenerative disk disease. Radiology. 1988; 168(1): 177-186. doi:10.1007/978-3-662-47756-4_7:
Histologisch ist der Verlauf von MODIC I zu MODIC II und III gekennzeichnet durch eine Zerstörung des knorpeligen Endplattenteils mit Untergang der Bandscheibe und zunehmender Sklerosierung des Endplattenknochens. Es konnten im Rahmen dieses Stadiums Reparaturvorgänge mit Einsprossen von Gefäßen und Nervenfasern beobachtet werden. Es wird postuliert, dass diese Einsprossung die morphologische Grundlage für die Entstehung des discogenen Schmerzes ist.3Fields AJ, Liebenberg EC, Lotz JC. Innervation of pathologies in the lumbar vertebral endplate and intervertebral disc. Spine J. 2014; 14(3): 513-521. doi:10.1016/j.spinee.2013.06.075
Der natürliche Verlauf wird durch die generelle Stoffwechselsituation (Durchblutung → Raucher) als auch durch zwischenzeitliche Komplikationen (Infekt → Spondylodiszitis) und Instabilitäten (Vakuumphänomen, Pseudospondylolisthese) beeinflusst.
Pathophysiologie
Nach wie vor ist die Entstehung der Entzündungsreaktion nicht vollständig geklärt. Möglicherweise existieren hier verschiedene Pfade.
Mechanischer Schaden
Die Bandscheibendegeneration (sei es akut oder chronisch) ist mit einem Höhenverlust verbunden, der durch eine Abnahme quellfähigen Materials (Aggrecan) erklärt werden kann. Durch die fortwährende Belastung des Segmentes sind die knorpeligen Endplatten vermehrt Scherkräften ausgesetzt, die zu Fissuren bis ins knöcherne Interface führen können.
Metabolischer Schaden
Durch die mechanische Überlastung des Knochens kommt es zur Sklerosierung, die per se die lokale Durchblutungssituation verschlechtert. Bei Rauchern kann man von einer zusätzlichen Mangeldurchblutung ausgehen, was die Nährstoffdiffusion in die Bandscheibe massiv einschränkt und zum Absterben der Nucleus-Pulposus-Zellen (NP-Zellen) führt. Somit fehlen dann die Produzenten für das Aggrecan und die Bandscheibe trocknet ein.
Bei Osteoporose kommt es durch die Schädigung der sinusoidalen Trabekelstruktur zur Mangelversorgung des Endplattenbereichs und konsekutiv auch der angrenzenden Bandscheibe. → Artikel zu Bandscheibenveränderungen bei Osteoporose.
Immunologische Reaktion
Die immunologische Antwort lässt sich gut in den MODIC-I Veränderungen als Knochenmarködem beobachten. Sie kommt durch Kontakt des ansonsten vor dem Zugriff des Immunsystems geschützten Nucleus-Pulposus-Gewebe mit dem durchbluteten Knochen zustande. Die hier ausgelöste Immunantwort legt einen autoimmunologischen Pfad nahe.4Dudli S, Liebenberg E, Magnitsky S, Lu B, Lauricella M, Lotz JC. Modic type 1 change is an autoimmune response that requires a proinflammatory milieu provided by the ‚Modic disc‘. Spine J. 2018 May;18(5):831-844. doi: 10.1016/j.spinee.2017.12.004. Epub 2017 Dec 15. PMID: 29253635.
Infektion
In Einzelstudien konnten in mehr als 50% der intraoperativ asservierten Bandscheibenvorfälle bakterielle Kontaminationen, insbesondere mit Cutibacterium Acnes gesichert werden. Diese Besiedlung war nur in Fällen mit entsprechender osteochondrotischer MODIC Typ I Reaktion zu sehen. Der Übergang zur Spondylodiszitis könnte also ein fließender sein. Allerdings stehen diesen Daten auch multizentrische Daten gegenüber, die eine bakterielle Besiedlung in der Mehrzahl der Fälle ausschliessen konnten. 5
Dudli S, Liebenberg E, Magnitsky S, Miller S, Demir-Deviren S, Lotz JC. Propionibacterium acnes infected intervertebral discs cause vertebral bone marrow lesions consistent with Modic changes. J Orthop Res. 2016 Aug;34(8):1447-55. doi: 10.1002/jor.23265. Epub 2016 Aug 3. PMID: 27101067.
Fritzell P, Welinder-Olsson C, Jönsson B, Melhus Å, Andersson SGE, Bergström T, Tropp H, Gerdhem P, Hägg O, Laestander H, Knutsson B, Lundin A, Ekman P, Rydman E, Skorpil M. Bacteria: back pain, leg pain and Modic sign-a surgical multicentre comparative study. Eur Spine J. 2019 Dec;28(12):2981-2989. doi: 10.1007/s00586-019-06164-1. Epub 2019 Oct 1. Erratum in: Eur Spine J. 2020 Jan;29(1):196-197. doi: 10.1007/s00586-019-06199-4. PMID: 31576463.
Heggli I, Mengis T, Laux CJ, Opitz L, Herger N, Menghini D, Schuepbach R, Farshad-Amacker NA, Brunner F, Fields AJ, Farshad M, Distler O, Dudli S. Low back pain patients with Modic type 1 changes exhibit distinct bacterial and non-bacterial subtypes. Osteoarthr Cartil Open. 2024 Jan 18;6(1):100434. doi: 10.1016/j.ocarto.2024.100434. PMID: 38322145; PMCID: PMC10844677.
Epidemiologie
Die Prävalenz von MODIC-Veränderungen in der Allgemeinbevölkerung liegt bei 6%, in der Population der Rückenschmerzpatienten bei >40%. 6Jensen RK, Leboeuf-Yde C, Wedderkopp N, Sorensen JS, Jensen TS, Manniche C. Is the development of Modic changes associated with clinical symptoms? A 14-month cohort study with MRI. Eur Spine J. 2012 Nov;21(11):2271-9. doi: 10.1007/s00586-012-2309-9. Epub 2012 Apr 24. PMID: 22526703; PMCID: PMC3481109.
Florence P.S. Mok, Dino Samartzis, Jaro Karppinen, Daniel Y.T. Fong, Keith D.K. Luk, Kenneth M.C. Cheung, Modic changes of the lumbar spine: prevalence, risk factors, and association with disc degeneration and low back pain in a large-scale population-based cohort,
The Spine Journal, Volume 16, Issue 1, 2016, Pages 32-41, ISSN 1529-9430,
https://doi.org/10.1016/j.spinee.2015.09.060.
Eine klinische Bedeutung bekommen nur MODIC-Typ I Veränderungen, da nur bei Ihnen die Assoziation mit Rückenschmerz nachgewiesen ist. Wichtig ist hier außerdem die Graduierung des Ausprägungsgrades des Knochenmark-Ödems. Dieser korreliert positiv mit dem Ausmaß des Schmerzes.7Weishaupt D, Zanetti M, Hodler J, et al. Painful lumbar disk derangement: relevance of endplate abnormalities at MR imaging. Radiology. 2001; 218(2): 420-427. doi:10.1148/radiology.218.2.r01fe15420
Saukkonen J, Määttä J, Oura P, et al. Association between modic changes and low back pain in middle age: a northern Finland Birth Cohort Study. Spine. 2020; 45(19): 1360-1367. doi:10.1097/BRS.0000000000003529
Klinik
Patienten beschreiben typischerweise ein Durchbrechgefühl, insbesondere bei längerem Stehen. Im Vordergrund der Beschwerden stehen Rückenschmerzen, manchmal auch Beinschmerzen. Besteht zusätzlich eine Instabilität können die Beschwerden mitunter auch nachts exazerbieren (=nach der Belastung).
Tests der vorderen Säule (Fersenfallschmerz, axiale Kompression) sind in der Regel positiv, mitunter sind die Segmente auch lokal druckschmerzhaft. Provozieren lassen sich die Schmerzen in der Regel auch durch Rotation in diesem Segment.
Diagnostik
Ein umfängliches Bild auf die Stoffwechselsituation von Bandscheibe und Endplatten bekommt man nur durch eine Kombination aus kernspintomografischer und röntgenologischer Diagnostik.
MRT
Die kernspintomografische Sequenz ist hierbei durch die MODIC-Veränderungen gut beschrieben:
- MODIC I: Ödem. T2 hell, T1 dunkel
- MODIC II: fettige Konversion. T2 weniger hell, T1 hell
- MODIC III: Sklerose. T2 und T1 dunkel
Differentialdiagnostisch kommt bei MODIC I Veränderungen auch die Spondylodiszitis in Frage. Die Unterscheidung gelingt hier durch KM-Applikation, was für die Ausdehnungsdiagnostik von Abszessen sinnvoll ist. Wertvolle Hinweise für die Differenzierung können jedoch auch aus Röntgenbildern gezogen werden.
Röntgen
Röntgenaufnahmen der LWS sollten im Stehen gemacht werden, da hier wertvolle Informationen zur Mechanik abgelesen werden können. Funktionsaufnahmen sollten ggf. besser im Liegen durchgeführt werden, da hier eine größere Bewegungsamplitude beobachtet werden kann.
Betrachtet werden sollen insbesondere:
- Kontur der Endplatten. Sind die Endplatten nicht abgrenzbar, könnte es sich doch um eine Spondylodiszitis handeln
- Wirbelkörperverformung durch Fraktur als Grund für die ödematöse Endplattenveränderung
- Vakuumphänomen. Ein Vakuumphänomen ist Ausdruck des Endstadiums der Bandscheibenzerstörung. Intraoperativ trifft man hier ein leeres Bandscheibenfach an. Außerdem zeigt das Vakuumphänomen die fehlende Stabilisation des degenerativ geschädigten Segmentes an.
- Pseudolisthesen, skoliotisches Abkippen, pathol. Hypermobilitäten (>8° segmentale Beweglichkeit in den Funktionsaufnahmen) bei geschädigter Bandscheibe
Therapie
Die Planung der Therapie erfolgt nur in den seltensten Fällen zur Behandlung der Osteochondrose allein, da diese Läsionen auch klinisch stumm sein können. Insbesondere bei mehrsegmentalen Veränderungen ist es klinisch und auch via Infiltrationstestung möglicherweise schwierig, die betroffene Etage zu identifizieren.
Hinweise für die adäquate Therapieplanung kommt aus der morphologischen und klinisch dann ggf. auch führenden Begleitpathologie:
- Stenose: Dermatombezug, Claudicatio, Neurologie
- Instabilität: Röntgenologischer Nachweis
Können aus den aktuellen Befunden keine Indexsegmente oder keine zugrundeliegende Begleitpathologie herausgearbeitet werden, liefern ggf. Verlaufsaufnahmen (bspw. bei deg. de-novo Skoliose) oder der Vergleich von Liegend- zu Stehend-Aufnahmen weitere wertvolle Hinweise.
Entsprechend der hier dann gestellten vollständigen Diagnose sollte eine Prognoseformulierung (dies schließt die Kenntnis des natürlichen Verlaufs ein) und ein Therapievorschlag erfolgen.
Die konservative Therapie schließt supportive Massnahmen wie ein Lendenstützmieder ein. Der analgetische Nutzen überwiegt hier evtl. Nebenwirkungen (?Muskelatrophie). Es ist außerdem gezeigt worden, dass durch diese Massnahme Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert werden konnten. 8Dailey AT, Ghogawala Z, Choudhri TF, Watters WC 3rd, Resnick DK, Sharan A, Eck JC, Mummaneni PV, Wang JC, Groff MW, Dhall SS, Kaiser MG. Guideline update for the performance of fusion procedures for degenerative disease of the lumbar spine. Part 14: brace therapy as an adjunct to or substitute for lumbar fusion. J Neurosurg Spine. 2014 Jul;21(1):91-101. doi: 10.3171/2014.4.SPINE14282. PMID: 24980591.
Insgesamt gibt es – wenn man sich an der Osteochondrose allein orientiert – kein konkludentes Bild der optimalen Therapieform. Daher sollte man – gerade wenn es auch um operative Massnahmen geht – zwingend eine führende Begleitpathologie identifizieren, auf deren Grundlage man die weiteren Schritte plant.