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Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind universelle Menschenrechte. Doch wie aus den jüngsten Abschlussbemerkungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) hervorgeht, stehen viele Staaten – darunter auch Deutschland – vor tiefgreifenden Herausforderungen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Die UN-BRK und die Bedeutung der Abschlussberichte
Die UN-BRK, die 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, markiert einen Paradigmenwechsel vom medizinischen oder fürsorgebasierten Modell hin zum Menschenrechtsmodell der Behinderung. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten, die volle und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte durch Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.
Um die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu überwachen, prüft der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) in regelmäßigen Abständen die Staatenberichte. Die daraus resultierenden Abschlussbemerkungen (Concluding Observations) sind keine bloßen Zeugnisse, sondern fundamentale Analysen. Sie listen positive Aspekte auf, identifizieren jedoch vor allem „Hauptsorgenbereiche und Empfehlungen“ und benennen dringend erforderliche Maßnahmen (urgent measures).
Globale Systemische Mängel: Die Kernprobleme der Umsetzung
Die Berichte über verschiedene Länder, darunter Indien, China, Singapur, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Schweden, Neuseeland, Kanada und Deutschland, zeigen wiederkehrende, tief verwurzelte Probleme, die die Gleichberechtigung und Inklusion systemisch behindern:
- Aufrechterhaltung des Medizinisches Modells: In vielen Rechtsordnungen und politischen Ansätzen dominiert weiterhin das medizinische oder karitative Modell der Behinderung, anstatt das Menschenrechtsmodell konsequent zu integrieren. Dies führt zu diskriminierenden Gesetzgebungen (z. B. in Indien und Singapur) und der Verwendung abwertender Begriffe (z. B. „Invalidität“ in der Schweiz).
- Verweigerung der Rechtsfähigkeit und Vormundschaft (Art. 12): Eines der universellsten Probleme ist das Fortbestehen von Systemen der ersetzenden Entscheidungsfindung (substituted decision-making) und der Vormundschaft. Der Ausschuss empfiehlt den Staaten, diese Regime abzuschaffen und durch unterstützte Entscheidungsfindung (supported decision-making) zu ersetzen, um die Autonomie und den Willen der Menschen mit Behinderungen zu respektieren.
- Institutionalisierung und Segregation (Art. 19): In zahlreichen Ländern fehlt eine kohärente, finanzierte Strategie zur Deinstitutionalisierung. Stattdessen werden weiterhin öffentliche Mittel in segregierte Einrichtungen (wie medizinisch-soziale Einrichtungen in Frankreich, Heime in Neuseeland oder in der Schweiz) investiert.
- Gewalt und Zwangseingriffe (Art. 15, 17): In einigen Staaten besteht die ernste Sorge um die grundlegendste körperliche Unversehrtheit. Berichte aus Indien nennen „Gnadenmorde“ an intersexuellen Kindern. Neuseeland wird wegen mangelnder Maßnahmen gegen Zwangssterilisation und Zwangsverhütung kritisiert. Singapur wird aufgefordert, die Todesstrafe für Personen mit intellektuellen/psychosozialen Behinderungen abzuschaffen. Selbst in westlichen Ländern werden Zwangsbehandlungen, Fesseln und Absonderung in Institutionen als besorgniserregend angesehen (z. B. Frankreich und Österreich).

Deutschland im Fokus: Strukturelle Barrieren und internationale Einordnung
Der UN-Ausschuss hat die kombinierten Berichte Deutschlands geprüft und mehrere positive Schritte, wie die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes und die Entfernung von Einschränkungen des Wahlrechts, anerkannt. Dennoch bleiben tiefgreifende strukturelle Probleme bestehen.
Hauptkritikpunkte an Deutschland:
- Institutionelle Segregation (Art. 19): Der Ausschuss äußert tiefe Besorgnis über die umfangreiche Segregation von Menschen mit Behinderungen in institutionellen Einrichtungen und den Mangel an Fortschritten bei der Deinstitutionalisierung. Es wird dringend eine umfassende Deinstitutionalisierungsstrategie gefordert, um die Institutionalisierung als Priorität zu beenden.
- Rechtsfähigkeit und Familienleben (Art. 23): Ein zentraler Kritikpunkt sind die Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Der Ausschuss befürchtet, dass Bestimmungen wie § 1304 (Ehefähigkeit), § 1673 (Aussetzung der elterlichen Sorge) und insbesondere § 1905 (Sterilisation unter Vormundschaft) zu Verletzungen der Rechte von Menschen mit Behinderungen führen können. Der Ausschuss fordert die Überarbeitung des BGB und die Abschaffung aller Bestimmungen, die die ehelichen, elterlichen und reproduktiven Rechte einschränken. Zudem wird Zwangsbehandlung und Zwangsinstitutionalisierung auf der Grundlage einer Beeinträchtigung in psychiatrischen und forensischen Einrichtungen kritisiert.
- Inklusive Bildung (Art. 24): Trotz der Verpflichtung zur Inklusion besteht weiterhin ein Mangel an vollständiger Umsetzung, die Vorherrschaft von Sonderschulen und Sonderklassen und Barrieren beim Zugang zu Regelschulen. Die Beschleunigung des Übergangs von der Sonderschulung zur inklusiven Bildung wird als dringendste Maßnahme genannt.
- Medizinische Triage (Art. 10): Deutschland wird aufgefordert, sein neues Bundesgesetz über Triage-Entscheidungen zu überprüfen. Es besteht die Sorge, dass das Kriterium der „tatsächlichen oder kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ indirekt Menschen mit Behinderungen diskriminieren könnte, obwohl Diskriminierung verboten ist.
Deutschlands Position im internationalen Vergleich:
Deutschland teilt die grundlegenden strukturellen Probleme vieler hoch entwickelter Staaten, insbesondere im Hinblick auf:
- Institutionalisierung: Die umfangreiche Segregation ähnelt der Situation in Frankreich (Unterbringung in medizinisch-sozialen Einrichtungen), der Schweiz (Institutionalisierung von Erwachsenen und Kindern) und Österreich (fehlende kohärente Strategie).
- Rechtsfähigkeit/Integrität: Die Kritik an der Möglichkeit der Sterilisation unter Vormundschaft im BGB (§ 1905) ist vergleichbar mit den Bedenken in der Schweiz (Sterilisation von Personen über 16 Jahren, die als „urteilsunfähig“ gelten) oder Neuseeland (elterliche Zustimmung zur Sterilisation von Kindern mit Behinderungen).
- Fokus auf Segregation: Der Beleg für die Zunahme der Segregation im Bildungsbereich und die fortbestehende Existenz von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) zeigen, dass Deutschland trotz guter rechtlicher Rahmenbedingungen bei der De-Segregation hinterherhinkt, ähnlich wie Dänemark (Zunahme segregierter Schulen) und Schweden (Mangel an Übergang aus dem geschützten Arbeitsmarkt).
Dringende Handlungsempfehlungen für die Staaten
Der Ausschuss hat für alle geprüften Staaten dringende Maßnahmen identifiziert, die die Kernprobleme der Umsetzung adressieren. Diese Prioritäten zeigen auf, wo die Staaten am dringendsten handeln müssen:
- Rechtsreform und Rechtsfähigkeit (Art. 12): Die vollständige Abschaffung aller Formen der ersetzenden Entscheidungsfindung und die Einführung eines nationalen Rahmens für unterstützte Entscheidungsfindung ist eine wiederkehrende und oft als dringend eingestufte Empfehlung (z. B. für Israel, Schweiz und China).
- Deinstitutionalisierung (Art. 19): Staaten müssen unverzüglich umfassende Deinstitutionalisierungsstrategien mit klaren Zeitrahmen, Budgets und Rechenschaftspflichten entwickeln und umsetzen, um alle Formen der Segregation zu beenden und Mittel für Gemeinschaftsunterstützung bereitzustellen. Dies wird u. a. für Deutschland und Österreich als dringend hervorgehoben.
- Inklusive Bildung (Art. 24): Es wird dringend empfohlen, umfassende Pläne zur Beschleunigung des Übergangs von Sonderschulen zu qualifizierter inklusiver Bildung zu entwickeln, wobei Ressourcen aus den Sonderschulsystemen umgeleitet werden müssen (z. B. Deutschland und Niederlande).
- Schutz der Integrität (Art. 17): Staaten wie Neuseeland werden dringend aufgefordert, sofort ein Moratorium für Zwangssterilisationen, Zwangsverhütung und Abtreibung ohne persönliche Zustimmung zu erlassen und Gesetze zu erlassen, die solche Praktiken verbieten.
- Partizipation und Überwachung (Art. 33): Die Staaten müssen sicherstellen, dass unabhängige Überwachungsmechanismen eingerichtet werden (wo diese fehlen, z. B. Singapur), und dass Organisationen von Menschen mit Behinderungen in alle Prozesse der Umsetzung und Überwachung vollumfänglich eingebunden werden.
Quellen
Dokumentensammlung der UN: UN Treaty Body Database
| Land (Staat) | Art des Berichts | Datum der Annahme der Abschlussbemerkungen |
|---|---|---|
| Indien | Erstbericht | 18. September 2019 |
| Frankreich | Erstbericht | 7. September 2021 |
| Schweiz | Erstbericht | 23. März 2022 |
| Neuseeland | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 5. September 2022 |
| Singapur | Erstbericht | 9. September 2022 |
| China (Volksrepublik) | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 1. September 2022 |
| Deutschland | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 5. und 6. September 2023 |
| Österreich | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 4. September 2023 |
| Israel | Erstbericht | 5. September 2023 |
| Schweden | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 20. März 2024 |
| Dänemark | Kombinierte Berichte 2 & 3 | 3. September 2024 |
| Niederlande (Königreich der) | Erstbericht | 30. August 2024 |
| Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) | Erstbericht | 19. August 2025 |


