Die ICF Klassifikation – tot oder lebendig ?

WHO and wheelchair mobilized people

Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Deutsch

Was ist ICF, ICD10 bzw. zukünftig ICD11 kennen wir alle, weil wir in diesem System unsere Diagnosen verschlüsseln. Btw, verschlüsselt ihr noch von Hand, oder lasst ihr das den Computer erledigen?

Aber zurück zum Thema ICF:

Die ICF (International Classification of Functioning) der WHO ist 20 Jahre alt geworden und niemand hat’s gemerkt. Oder? Viele Wissenschaftler auf dem gesamten Globus haben auf diese Klassifikation hingearbeitet, sie wird als Meilenstein für die Sichtbarmachung der Probleme von behinderten Menschen gefeiert. In einem Review von Leonardi et al. unter multinationaler Koautorenschaft werden Entwicklung und aktueller Implementierungsstand beschrieben. Es klingt ernüchternd. Meine eigene Recherche bestätigt dies.

Die PubMed Statistik zur ICF Klassifikation

Rein von der Publikationshäufigkeit scheint die ICF sich auf einem niedrigen Niveau eingependelt zu haben. Im Vergleich mit anderen (eher medizinischen) Themen, entwickelt sie jedoch überhaupt keine Dynamik und führt ein Schattendasein.

Die Publikationszahlen 2022 bei verschiedenen sozialmedizinisch relevanten Suchbegriffen. Beachten Sie die logarithmische Skala. Die ICF findet sich zwischen WHODAS 2.0 und wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Rollstuhl.

Was ist die ICF?

Sie ist die Klassifikation mit der größten Breite in der Erfassung von Teilhabestörungen behinderter Menschen und damit relevant für mindestens 15% der Menschen. Dabei ist nicht festgelegt, aus welchem Grund diese Menschen behindert sind – es können medizinische (Krankheit, Unfall), soziale (Bildung, Beruf) oder ganz andere Ursachen eine Rolle spielen. Sie ist international gültig und durch verschiedene Assessment-Sets validiert, sie ist Basis für Screening-Tools wie das WHODAS 2.0 Instrument (in 70 Sprachen) oder für QoL-Assessment-Tools (Review zur QoL bei Mobilitätsfragen). Mit ihr könnte es gelingen, Funktions- und Teilhabestörungen behinderter Menschen holistisch und einheitlich abzubilden.

Ich schreibe diesen Artikel als klinisch tätiger Arzt. Ich kenne meine Patienten vor der Operation, ich operiere sie selbst und ich sehe sie in der Rehabilitation. Die Möglichkeiten moderner Wirbelsäulenchirurgie eröffnen hier relevante Teilhabe-Chancen. Könnte die ICF mir als Grundlage dafür dienen, den Teilhabe-Wert eines operativen Eingriffs darzustellen? Also mache ich jetzt das Experiment und versuche einmal, einen durch Erkrankung (lumbale Spinalkanalstenose) an seiner Teilhabe behinderten Menschen abzubilden. Der Patient ist fiktiv.

Meiner erster Versuch einer Klassifikation

Schritt 1: Modul Körperfunktion

Auf der Website des DIMDI finde ich die ICF Klassifikation. Um die Körperfunktion zu klassifizieren, schaue ich ins Modul Körperfunktionen (b) und finde hier als am ehesten passend:

b760 Funktionen der Kontrolle von Willkürbewegungen

Das scheint als Kategorie zu greifen, denn Patienten mit einer lumbalen Spinalstenose haben in der Regel schmerzende Beine beim Laufen, was ein willkürlicher Akt ist. Geht es denn noch ein bisschen genauer?

Beim weiteren Lesen fällt mir auf, dass da steht:

  • Exkl.:Funktionen der Muskelkraft (b730); Funktionen der unwillkürlichen Bewegungen (b765) , Funktionen der Bewegungsmuster beim Gehen (b770)

Also doch eher Funktionen der Muskelkraft (b730)? Ich entscheide mich dann für b740 – Funktionen der Muskelausdauer und dort für

b7401 Ausdauer von Muskelgruppen

Erstes Fazit: Man muss in diese Klassifikation eingearbeitet sein. Ich hatte bereits 2 Stunden in das E-Learning Tool investiert, anscheinend reicht dies jedoch nicht aus.

Schritt 2: Anatomie

Um die geschädigten Körperstrukturen zu klassifizieren, schaue ich in Modul s. Zwischenzeitlich frage ich mich, ob das überhaupt erforderlich ist, da man ja prinzipiell nach ICD 10 ganz einfach mit M48.06 alles wesentliche zur Spinalstenose gesagt haben könnte. Aber gut – im Sinne des Experiments:

Wirbelsäule gibt es als Struktur nicht. Rücken schon eher, dort Rückenmark … aha:

s12003 Kaudafasern (Cauda equina)

Damit gebe ich mich zufrieden.

Schritt 3: Teilhabestörung und Umweltfaktoren

Modul d ist das eigentlich interessante, weil hier die Teilhabestörungen klassifiziert werden, dort ist ganz klar Kapitel d4 – Mobilität der Treffer. Nach 2 weiteren Clicks werde ich fündig:

d4501 Lange Entfernungen gehen

Älterer Mensch mit Stock, anteflektiertes Gangbild. Typisch für eine Spinalkanalstenose Lumbalbereich
Photo by Vasily Kleymenov on Pexels.com

Modul e erscheint mir auch relevant, weil es Umweltfaktoren beschreibt, die entweder unterstützend oder erschwerend wirken. Gegen Schmerzen kann man Schmerzmittel (e1101 – Medikamente) nehmen, vielleicht auch einen Rollator (e1151 – Hilfsprodukte und unterstützende Technologien für den persönlichen Gebrauch im täglichen Leben). Wird die Wohnung umgebaut (e1550 – Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien für Zu- und Ausgänge von privaten Gebäuden) ? Geht jemand aus der Familie für ihn Einkaufen (e310 – Engster Familienkreis).

Nach ca. 20 Minuten habe ich also die Nummern b7401, s12003, d4501 und e1101 gesammelt. Glücklicher bin ich dadurch nicht: wie habe ich meinem Patienten dadurch geholfen? In dieser Zeit hätte ich Anamnese, körperliche Untersuchung einschliesslich Würdigung der MRT-Bilder und eine erste Einschätzung zu den Behandlungsoptionen abgeben können. Muss ich nicht eigentlich jetzt noch die Ausprägung durch Modifikatoren beschreiben?

Die Beurteilung des Schweregrades erfolgt durch Zusatzcodes.

Die Ausdauer der Muskelgruppen ist erheblich beeinträchtigt, der Spinalkanal verlegt und die Kaudafasern aufgestaucht, lange Entfernungen (1km) können gar nicht mehr zurückgelegt werden und das Medikament hilft gar nicht: b7401.3, s12003.4, d4501.4, e1101+0. Ich weiß jetzt gar nicht so richtig, ob vielleicht ausgereicht hätte, d4501.4 allein zu kodieren? Kommt wohl auf den Anwendungsfall an…

Fazit

Der erste Eindruck ist: das ist mühsam. Der zweite Eindruck ist: es ist beherrschbar, aber ich brauche einfach noch mehr Hilfestellung. Warum mache ich das?

Hätte ich es mit einem Core-Set besser hinbekommen? Welchem ? Dem für Rückenschmerz (passt eigentlich nicht) oder für chronischen Schmerz (passt auch nicht)? Zudem sehen die dort aufgeführten Listen nicht nach einer eigentlichen Hilfestellung aus.

Das System ist wirklich sehr umfassend, aber es benötigt definitiv Einarbeitung. Könnte man das nicht irgendwie mit einer intelligenten technischen Lösung vereinfachen?

Woran das System meiner Meinung nach in der Klinik scheitert

  • Praktikabilität. Sicher wird man schneller in der korrekten Kodierung, wenn man es häufiger macht. Aber wenn so ein System erst mühsam erlernt werden muss, dann liegt die Hürde für eine breite Anwendung doch sehr hoch. Durch die Entwicklung von Core-Sets (auch als Web-Anwendung, aber nicht sehr benutzerfreundlich), speziellen Fragebögen und Checklisten wird diesem technischen Aspekt in Ansätzen Rechnung getragen. Allerdings habe ich noch keine App und kein wirklich benutzerfreundliches Design entdecken können.
  • Abstraktionsgrad. Für den klinisch tätigen Arzt erfordert das System eine Rückübersetzung aus klinischer Sprache in Alltagssprache. Für diejenigen, die mit ihren Patienten Klartext reden, ist hier die Hürde vielleicht nicht so hoch, weil die ICF-Begrifflichkeiten der Alltagssprache entlehnt sind.
  • Fehlender Zwang zur Anwendung. Freiwillig macht das keiner. Auch die Verbreitung der ICD 10 Kodierung begründet sich letztlich in der DRG-Kopplung und in ihrer Abrechnungsrelevanz. Solange die ICF nicht von den Kostenträgern eingefordert wird, wird sie klinisch wohl niemand einsetzen.
Image by Clker-Free-Vector-Images from Pixabay
  • Scheu vor Klassifikationen allgemein. Diese besteht weniger im ärztlichen Bereich, wo man den Umgang mit vielen Klassifikationen als Entscheidungswerkzeuge täglich praktiziert. Eher wird von den Betroffenen selbst eine “Objektivierung” im wahrsten Sinne des Wortes skeptisch beäugt (Lundälv et al.). Man ist doch keine Nummer!
  • Die Klassifikation ist kontraintuitiv und unterbricht den ärztlichen Diagnostik-Indikations-Flow.

Was das System wahrscheinlich könnte

Die ICF könnte unser krankheits- und diagnosezentriertes Weltbild ablösen – hin zu einer Orientierung zu den gesamten Teilhabestörungen eines Menschen. Sie wäre geeignet, Verläufe im Längsschnitt zu zeigen, unabhängig von spezifischen Assessment-Instrumenten. Somit würde ein wichtiger Nachteil vieler klinischer Studien – der fehlenden Vergleichbarkeit und der schwierig nachvollziehbaren klinischen Relevanz – beseitigt.

Beispiel für die Visualisierung der Änderung von Teilhabestörungen durch Interventionen (aus Paltrinieri et al.)

Jenseits der Forschung glaube ich, dass Ärztinnen und Ärzte mehr oder weniger in ihren Entscheidungen diese holistische Sichtweise bereits praktizieren – ganz ohne ICF. Was ist also der zu erwartende Mehrwert?

Die Standardisierung der ICF ermöglicht die Entwicklung von Public-Health Werkzeugen auf einer gemeinsamen Plattform. Damit wäre eine Effizienzsteigerung der Fürsorge-Aktivitäten möglich. Gleichzeitig könnten auch völlig neue, barrierefreie und individuell angepasste Assessment-Tools entwickelt werden.

Die ICF ermöglicht barrierefreie Kommunikation. Hier die Illustration von d4501 – Lange Entfernungen gehen (Illustrations copyright by TAI TAKAHASHI, International University of Health and Welfare and TAI Human Research.Inc.)

Man müsste sich dabei jedoch vom Diagnose-zentrierten Weltbild der heutigen Medizin etwas lösen können und wollen. Auch die bereits etablierten Core-Sets fußen immer noch auf einer althergebrachten Denkweise. Weiterhin sollte das ungute Gefühl einer Objektivierung von Individualität ernst genommen werden, der Klassifizierungsvorgang müßte deutlich leiser und hintergründiger Ablaufen. Wie läßt sich das erreichen?

Eine Möglichkeit wäre, die Anamnese als Freitext einer Textanalyse durch den Computer zu unterziehen. Die dabei eingesetzte KI filtert dann die entsprechenden Passagen nach den ICF-Kriterien und fragt am Ende noch bestehende Unklarheiten mittels Chat mit dem Arzt oder dem Patient ab. Das hätte den Vorteil, dass der Klassifizierungsvorgang sehr individuell abläuft und gleichzeitig der Arzt eine Rückmeldung bekommt, an welchen Stellen er ungenau in seiner Sichtweise auf den Patienten geblieben ist (zum Beispiel wenn er die Gehstrecke nicht quantifiziert hat).

Trotz dieser technisch-spielerischen Herangehensweise bleibt die Frage zu beantworten, ob und wozu die ICF in Zukunft eingesetzt wird.

Geht es vielleicht eher um die Frage einer gerechten Ressourcen-Allokation? Um Vergleichbarkeit der Effizienz von medizinischen oder anderen Massnahmen? Geht es um Auflösung der Barrieren zwischen Versorgungssystemen (z.B. medizinisch-rehabilitativ und beruflich-rehabilitativ) ? Geht es um individuelle Längsschnitt-Dokumentation von Behinderung und (hoffentlich) deren Auflösung durch gezielte Massnahmen? Wird diese Denkweise eine Rolle in einer zunehmend alternden Gesellschaft spielen, in der nicht ein Maximum an Gesundheitsdienstleistungen gefordert sind, sondern eine Bedarfs-orientierte Allokation der Massnahmen mit der höchsten Effizienz?

Was glauben Sie, welchen Einfluß die ICF auf Ihre berufliche Tätigkeit ausüben könnte? Bitte nehmen Sie an der Umfrage teil – die Antworten sind selbstverständlich anonym.

Welchen Einfluß wird die ICF in Zukunft auf Ihr Handeln haben?

Haben Sie noch weitere Ideen dazu? Sehen Sie die Dinge anders? Bitte teilen Sie Ihre Meinung in den Kommentaren mit. Vielen Dank.

Sharing is caring!

Schreibe einen Kommentar