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Artikel für Ärztinnen und Ärzte. Eine präoperative Opiatmedikation kann das Ergebnis von Operationen verschlechtern. Insbesondere Wirbelsäulenpatienten sind häufig stark belastet. Der Artikel beleuchtet die pathophysiologischen Zusammenhänge und zeigt Wege zur Lösung.
Artikel für Ärztinnen und Ärzte
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Die Opiatkrise als Augenöffner
Unkritisches Verschreiben von opiathaltigen Arzneimitteln hat in den USA zu einer Krise mit Tausenden Drogentoten geführt. 1 https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/opioid-krise-in-den-usa-eine-nation-auf-drogen-a-63c3c375-3d46-491a-98ba-7ff567c14fe1 Auch wenn die Opiat-Missbrauchs-Zahlen aus den USA höher sind als in anderen Ländern 2 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31318808/ , lohnt es sich, bei den eigenen Patienten die Opiatmedikationspraxis zu überdenken. Um es klarzustellen: die Situation in Deutschland ist definitiv eine andere als in den USA und Opiate haben ihren festen Stellenwert in der Schmerztherapie. 3https://www.aerzteblatt.de/archiv/212689/Schmerztherapie-Wie-sich-Opioide-einsparen-lassen Es gibt jedoch einige – vielleicht nicht ganz so bekannte Nebenwirkungen zu beachten, die insbesondere vor Operationen und da besonders vor geplanten Wirbelsäulenoperationen ganz wissenswert sind.
Ziel dieses Artikels ist eine Zusammenfassung über Opiatnebenwirkungen im chronischen Gebrauch mit dem Ziel, dass vielleicht bei dem ein oder anderen Patienten mit einer geplanten Wirbelsäulenoperation (oder andere geplante Operation) diese Medikamente präoperativ abgesetzt werden können. Der Begriff Opiat wird als Sammelbegriff für die natürlichen Opiate (Morphin) und die synthetischen Opioide (Fentanyl, Oxycodon, Buprenorphin, etc.) verwendet. Auf substanzspezifische Wirkungen kann hier nicht eingegangen werden.
Zusammenhang Opiate präoperativ und postoperativ
Ich selbst bin mit diesem Thema zum ersten Mal auf dem Skoliosekongress in Montreal 2019 konfrontiert worden. 4 https://www.srs.org/professionals/online-education-and-resources/past-meeting-archives/annual-meeting/54th-annual-meeting-montreal-canada-september-18-21-2019
Multi-Center Studien kamen zu dem Schluß, dass eine präoperative Opiatmedikation der wesentliche Risikofaktor für eine schlechtere Schmerz- und Funktionssituation postoperativ bei größeren Fusionseingriffen war.5 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1529943019302657 Natürlich war es auch so, dass diejenigen Patienten, die postoperativ die Opiate erfolgreich abgesetzt haben auch in der Gruppe der funktionell besseren Patienten waren.6 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1529943019306370 Es gibt aus meiner Beobachtung nur wenige Patienten, die nach einer Operation ihre Opiatmedikation behalten möchten. Die meisten würden sie gern loswerden. Dies deckt sich auch mit den Empfehlungen der deutschen LONTS-Leitlinie, die eine zügige De-Eskalation der akutstationären Schmerztherapie empfiehlt. 7 https://www.schmerzgesellschaft.de/fileadmin/2019/lonts/LONTS_2._Aktualisierung_Empfehlungen_2019.pdf
Nebenwirkungs-Pathophysiologie von Opiaten
Die Nebenwirkungen präoperativer Opiate erstrecken sich jedoch nicht nur auf eine verschlechterte Schmerzkontrolle. Alles, was wir postoperativ fürchten (Infekte, Frakturen), scheint hier ebenfalls verschlechtert zu sein.
Warum ist das so? – wie tief reicht die Opiatwirkung in den Organismus hinein?
- Opiate haben über eine Reduktion der CRH → ACTH – Achse einen Einfluss auf unser adrenerges Streßmanagement. 8 https://www.thelancet.com/journals/landia/article/PIIS2213-8587(19)30254-2/fulltext In der Konsequenz ist der Patienten-Cortison-Spiegel dem Stress einer Operation nicht angemessen.
- Opiate haben einen direkten Effekt auf Zellen des Immunsystems. 9 https://www.scielo.br/j/ramb/a/srHBJJwXWxbVmqBGVbCkxvQ/?lang=en&format=pdf So gibt es nahezu auf allen Zellen des angeborenen und adaptiven Immunsystems Opiat-Rezeptoren. Die Aufgabe besteht hier wohl in einem anti-nozizeptiven Effekt im entzündeten peripheren Gewebe. Hieraus Schlüsse für den klinischen Gebrauch zu ziehen, ist aufgrund der Mannigfaltigkeit der nachgewiesenen Interaktionen schwierig. Für die Praxis relevant ist möglicherweise, dass der immunosppressive Effekt nur bei Morphin und Fentanyl, nicht jedoch bei Oxycodon und Tramadol nachgewiesen wurde.
- Opiate hemmen die Gonadotropin → Sexualhormon – Achse bei Männern und Frauen. 10 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26516462/ Wußten Sie das? Klären Sie Ihre Patienten über die zu erwartende Sexualfunktionsstörung bei Verordnung von Opiaten auf? (Nach der S3-Leitlinie müssten sie es eigentlich tun)
Diese Effekte treten schon mit der ersten Gabe auf. Langfristig lässt dieser Mechanismus eine fixierte Alteration der Hypothalamus → Hypophysen-Achse erwarten. Weitere langfristige Effekte sind:
- Osteopenie – zum einen durch die bereits beschriebene Wirkung auf die Sexualhormone. Andererseits inhibieren Opiate auch direkt die Osteocalcin-Synthese in den Osteoblasten. 11 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2342747/
- Adipositas durch Insulinresistenz und Diabetes. Wiederum erklärbar über eine Hypogonadismus-vermittelte Insulinresistenz, möglicherweise jedoch auch über andere Pfade.12 https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.4103/2321-0656.176570.pdf Insgesamt führt die Kombination Diabetes und Opiatgebrauch zu einer deutlich erhöhten Mortalität, auf welcher pathophysiologischen Grundlage auch immer. 13 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7938504/ Die Interaktion funktioniert wohl auch in umgekehrter Richtung: Diabetes-Patienten (Typ 1 und 2) brauchen postoperativ mehr Opiate. 14 https://www.medscape.com/viewarticle/985068#:~:text=People%20with%20type%202%20diabetes,compared%20to%20people%20without%20diabetes
Welche der erwähnten Opiatnebenwirkungen war Ihnen denn bereits bekannt?
Klinische Konsequenzen
Nach diesem Ausflug in die Pathophysiologie möchte ich nun zu den klinisch nachgewiesenen Konsequenzen kommen, den nachgewiesenen Opiat-bedingten Komplikationen.
Komplikationen bei Endoprothesen-Implantation
In einer großen amerikanischen Querschnitts-Studie (2014+2015) an 35.000 Patienten, die sowohl Hüft- als auch Knie- Totalendoprothesen bekommen hatten, wurden folgende Komplikationen beschrieben. 15 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7060398/ Ich füge die Hazard Ratio (HR) mit an, damit jeder für sich das Ergebnis bewerten kann. Patienten, die mit Opiaten in die OP gingen, hatten
- mehr Wundinfektionen (HR = 1,35, 95% CI = 1,14 – 1,59)
- mehr Revisionen (HR = 1,44, 95% CI = 1,21 – 1,71)
- ca. 1.000 USD höhere medizinische Folgekosten innerhalb des laufenden Jahres
Für die Schulter-Endoprothetik gelten vergleichbare Aussagen. 16 https://www.jshoulderelbow.org/article/S1058-2746(20)30681-9/fulltext
Komplikationen in der spinalen Chirurgie
Unter den Wirbelsäulenpatienten ist die Gruppe der Opiatkonsumenten am höchsten, die Abhängigenquote ebenfalls. 17 https://esmed.org/MRA/mra/article/view/2984 Schmerzgeplagte Patienten erhalten meist schon vor der erstmaligen Konsultation des Spezialisten Opiate verschrieben. Dieses Vorgehen soll nicht angeprangert werden – im Gegenteil, untermauert es doch die Intensität und den Leidensdruck der Patientenklientel. Es liegt vielmehr in der Verantwortung des Wirbelsäulenchirurgen, einen konsequenten Fahrplan für den Patienten zu entwerfen, bei dem die Zielstellung ganz klar das Absetzen der Opiatmedikation beinhaltet.
Aus Versicherungsdaten in den USA zum Opiatgebrauch vor und nach spinalen Operationen ist bekannt, dass mit zunehmender Dauer der präoperativen Medikation das Risiko für den postoperativen Gebrauch steigt. 18 https://journals.lww.com/jbjsjournal/Abstract/2018/06060/Sustained_Preoperative_Opioid_Use_Is_a_Predictor.2.aspx
Im Bereich der HWS hat eine Studie mit 20.000 Patienten (retrospektive Versicherungsdaten von 2007-2015) gezeigt, dass eine präoperative Opiattherapie von mind. 3 Monaten Dauer signifikant häufiger zu
- Wundheilungsstörungen (Odds Ratio: 1,32)
- Infektionen (OR: 1,34)
- Obstipationsbeschwerden (OR: 1,11)
- Neurologischen Komplikationen (OR: 1,44)
- akutem Nierenversagen (OR: 1,24)
- tiefen Venenthrombosen (OR: 1,20)
führt. 19 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30973507/ HWS-Fusionen sind tendenziell kleinere Operationen, die Patienten in der Regel schneller wieder fit und meistens schmerzarm mobilisiert. Wenn also schon in einer derart benignen Patientenpopulation solche Unterschiede zutage treten, dann ist das schon ein klares Indiz auf die Medikamentennebenwirkung und nicht einer primär kränkeren Patientenklientel geschuldet.
Die Zahl der Publikationen zu den Komplikationen im Bereich der LWS sind deutlich vielgestaltiger, bestätigen im Kern die Komplikationsraten aus den HWS-Zahlen. Aufgrund der mechanischen Besonderheiten der lumbalen Chirurgie kommt hier noch die erhöhte Implantatversagensrate hinzu. 20 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32271911/
Ein Absetzen der Opiate 3 Monate präoperativ führt zu einer deutlichen Reduktion der beschriebenen Risiken. 21 https://journals.lww.com/jbjsjournal/Abstract/2019/03060/Prediction_of_Complications,_Readmission,_and.2.aspx
Komplikationsraten außerhalb der orthopädischen Chirurgie
Eine erhöhte Komplikationsrate durch präoperative Opiatmedikation findet sich ebenfalls in der kolorektalen Chirurgie, in der Herzchirurgie und als erhöhte [Mortalität in der Gefäßchirurgie. 22 Kolorektale Chirurgie, Herzchirurgie, Gefäßchirurgie
Was tun?
Opiate sind schnell verschrieben, aber der Rückzug daraus kann schwierig werden. Dafür gibt es kein allgemeingültiges Rezept und das kann hier auch nicht thematisiert werden. Die Prävention eines opiatbelasteten Verlaufs ist hier der kosteneffektivste Weg, kostet aber Zeit und Denkarbeit, um mit dem Patienten die richtige Strategie zu erkennen. Zumindest als indikationsstellende Chirurgen sollte man das Thema “präoperatives Absetzen” aufs Tableau bringen, um die eigenen Ergebnisse zu optimieren.
Nach den Empfehlungen der S3-Leitlinie zur Opiatabhängigkeit (die ja bereits nach wenigen Wochen Therapie vorliegen kann) sollte eine Entzugsbehandlung durch einen Schmerztherapeuten geführt werden. Dies ist aus fachlicher Sicht auf jeden Fall zu begrüßen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies in der Realität heute und in Zukunft so leistbar und praktikabel sein wird. Der Übergang vom bestimmungsgemässen Gebrauch zur Abhängigkeit sind fließend. Erlauben Sie mir an dieser Stelle die Frage, wie sie als Nicht-Schmerztherapeut damit umgehen (vollständig anonyme Befragung, bitte nehmen Sie teil, damit wir ein Abbild der Versorgungsrealität bekommen)?
In den Best Practice Guidelines der UK aus dem Jahr 2021 heisst es hierzu, dass der präoperative Opiatgebrauch ggf. in einer Prehabilitationsphase adressiert werden sollte.23 https://fpm.ac.uk/sites/fpm/files/documents/2021-03/surgery-and-opioids-2021_4.pdf Neben der genauen Erfassung des Gebrauchs sollte auch eine psychologische Vorbereitung der Patienten erfolgen, die Ängste und Erwartungshaltung adressiert – idealerweise verbunden mit einer entsprechenden Patientenedukation. Auch für den deutschen Raum gibt es hier entsprechende Empfehlungen24 https://www.aerzteblatt.de/archiv/212689/Schmerztherapie-Wie-sich-Opioide-einsparen-lassen .
Gerade in ERAS Programmen (Fast Track / Enhanced Recovery) sollte die präoperative Vorbereitung eine wesentliche Rolle spielen, da Opiate in nahezu allen klinischen Studien den stationären Aufenthalt verlängerten. 25 https://journals.lww.com/clinicalpain/fulltext/2020/03000/enhanced_recovery_after_surgeryeras_a.11.aspx
Leitlinien
- Häuser W. 2. Aktualisierung der S3 Leitlinie „Langzeitanwendungen von Opioiden bei
chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS)“. Der Schmerz 2020; 34 - Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen – 1. Auflage. Version 01. 2020.