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Patientenratgeber. Unkritisch verordnete opiathaltige Medikamente können zu enormen Problemen bei der Durchführung von Operationen führen. In diesem Artikel werden die Zusammenhänge beschrieben und Strategien zur Vermeidung aufgezeigt.
Artikel für Patientinnen und Patienten
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Die Opiatkrise in den USA als Augenöffner
Unkritisches Verschreiben von opiathaltigen Arzneimitteln hat in den USA zu einer Krise mit Tausenden Drogentoten geführt. 1 https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/opioid-krise-in-den-usa-eine-nation-auf-drogen-a-63c3c375-3d46-491a-98ba-7ff567c14fe1 Obwohl bereits mehr als 13 Millarden US-Dollar an Kompensationszahlungen geflossen sind, werden die langfristigen Folgen und die noch erforderlichen Aufräumarbeiten mindestens eine Generation in Anspruch nehmen. 2 https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/usa-walmart-zahlt-mehr-als-drei-milliarden-dollar-wegen-opioid-krise-a-a514b809-febd-4aa1-b771-49ef4cff252a Auch wenn die Opiat-Missbrauchs-Zahlen aus den USA höher sind als in anderen Ländern 3 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31318808/ , lohnt es sich, dieses Drama zu verfolgen und auf die Gefahren hinzuweisen, die mit einer Opiatmedikation verbunden sind. In Deutschland ist der Umgang mit Opiaten zu recht streng reglementiert. Dennoch kann es gute Gründe geben, eine bestehende Opiatmedikation zu hinterfragen.
Ziel dieses Artikels ist daher, bei Ihnen – werte Patientin, werter Patient – ein Bewußtsein für die Nebenwirkungen von Opiaten zu schaffen. Dies geschieht insbesondere in Bezug auf eine möglicherweise anstehende Wirbelsäulen-Operation. Bitte nehmen sie sich die Zeit für die folgenden Zeilen. Bitte ändern Sie nicht leichtfertig eine laufende Therapie, sondern nehmen Sie diesen Artikel als Anlass, um mit ihrem Arzt darüber zu sprechen.
Ich bin als wissenschaftlich tätiger Wirbelsäulenchirurg in den letzten Jahren häufiger über Berichte gestolpert, in denen von höheren Komplikationsraten nach Wirbelsäulen – Versteifungsoperationen berichtet wurde, wenn die Patienten zuvor Opiate genommen hatten. Das ist nicht unbedingt sofort einleuchtend, weil man ja der Meinung ist, dass Opiate als sehr starke Schmerzmittel, die Welt für den Patienten eigentlich einfacher machen sollte. Aber es gibt eben auch Nebenwirkungen.
Allgemeine Opiatnebenwirkungen
Die bekanntesten Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Verstopfung. Manchmal entstehen daraus zusätzliche Probleme wie etwa Stürze oder ein Darmverschluß. Letzteres lässt sich vermeiden, indem man (auch medikamentös) auf eine breiige Stuhlkonsistenz achtet.
Die Nebenwirkungen, von denen ich in diesem Beitrag berichten möchte, sind jedoch nicht so bekannt.
Was machen Opiate / Opiode im Körper?
- Opiate reduzieren die Ausschüttung unseres Stresshormons Cortisol über eine Hemmung der Produktion der Vorläuferhormone CRH und ACTH im Gehirn. Im Alltag ist das möglicherweise kein Problem. Jedoch wird im Rahmen einer größeren Operation, wie z.B. einer Versteifungsoperation an der Wirbelsäule, dem Organismus einiges zugemutet. Man erwartet von diesem Organismus, dass er mit dieser Form des Stresses durch die Operation umgehen kann (z.B. den Blutdruck und den Blutzucker steigern, um mehr Energiereserven locker zu machen). Fällt nun diese Antwort schwächer aus, weil der Cortisolspiegel zu niedrig ist, muss wiederum mit Medikamenten agiert werden, um z.B. den Blutdruck zu steigern, was sich wiederum negativ auf die Durchblutung der Organe (z.B. Gehirn und Rückenmark) auswirken kann, weil diese Medikamente auch die Gefäße verengen. Eine unzureichende Stressantwort bedeutet auch eine zu geringe Stimulation des Immunsystems. Gerade das Immunsystem wird aber postoperativ gebraucht, um eingedrungene Bakterien (in jeder Operation – auch wenn sie noch so aseptisch ausgeführt wird – dringen Bakterien in den Organismus ein) eliminieren und die Heilungsphase koordinieren zu können.
- Wenn wir gerade bei den Bakterien sind. Opiate haben einen direkten Effekt auf die Zellen unseres Immunsystems. Nahezu alle diese Zellen haben sensible Antennen für Endorphine (unsere körpereigenen Opiate), die zum Beispiel bei schweren Verletzungen ausgeschüttet werden, um uns vor überwältigenden Schmerzen vorübergehend zu schützen. Diese Abwehrzellen können nun also direkt durch Opiate in Form von Medikamenten gestört werden, was wiederum die Infektanfälligkeit nach Operationen erhöht.
- Opiate hemmen die Ausschüttung von Sexualhormonen. Nun werden sie sicher sagen, dass durch Schmerzen sexuelle Lebensfreuden ja auch eher gedämpft sind. Es geht hier aber um die langfristigen Folgen mit Wirkung auf die Wirbelsäule und die liegen weniger im Bereich von Lust und Begehren. Ein niedriger Spiegel der Sexualhormone Östrogen (Frau > Mann) und Testosteron (Mann > Frau) hemmt den Knochenstoffwechsel und führt zum Knochenschwund (Osteoporose). Das ist insbesondere dann tragisch, wenn die Patientin/der Patient bereits eine Osteoporose und deswegen starke Schmerzen hat. Mitunter verursacht eine Osteoporose auch Wirbelbrüche und erfordert operatives Handeln.
Trifft das auf sie zu? Sprechen Sie ihren Arzt auf das Dilemma an! Hier sollte nach Lösungswegen gesucht werden. Vor einer Wirbelsäulenoperation oder anderen orthopädischen Operationen kann die Osteoporose zum Problem werden, da dadurch Implantate ggf. nicht so gut fixiert werden können. - Opiate machen zuckerkrank (Diabetes mellitus), genauer gesagt, machen sie bestimmte Organe des Körpers unempfindlich gegen Insulin (Insulinresistenz). Insulin ist das Hormon, welches wie ein Schlüssel die Tür öffnet, damit Zucker in unsere Zellen gelangt. Dadurch sinkt der Blutzuckerspiegel. Zucker wird durch Insulin in unserem Fettgewebe zu Fett umgebaut, ein erhöhter Insulinspiegel wirkt dann wie eine Mast. Bei einer Insulinresistenz muss mehr Insulin produziert werden, um den Blutzuckerspiegel zu senken. In der Folge werden die Fettzellen mehr und größer – der Patient wird immer dicker. Diabetiker haben immer ein erhöhtes Risiko für Komplikationen bei größeren Operationen wie zum Beispiel Wirbelsäulenversteifungen.
Grau ist alle Theorie. Wie machen sich diese Nebenwirkungen denn nun bei der Durchführung von Operationen bemerkbar? Könnte ich als Patient davon betroffen sein?
Postoperative Komplikationen durch präoperative Opiatmedikation
Die folgenden Aussagen sind durch hochwertige klinische Studien belegt und in der Arztausgabe dieses Artikels verlinkt. Der Fokus liegt im orthopädischen / wirbelsäulenchirurgischen Bereich. Es existieren jedoch auch Studien in der Herz- und Gefäßchirurgie sowie in der Bauchchirurgie, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Komplikationen in der Endoprothetik
Patienten, denen mit einer länger dauernden präoperativen Opiatmedikation (> 3 Monate) ein Kunstgelenk an Schulter, Hüfte oder Knie implantiert wurde, hatten häufiger Wundinfektionen und mussten häufiger nochmals wegen Komplikationen operiert werden. Die Krankenhausaufenthaltsdauer und die medizinischen Folgekosten waren innerhalb eines Jahres nach der Operation höher.
Komplikationen in der Wirbelsäulenchirurgie
Patienten mit Wirbelsäulenproblemen haben häufiger Opiatkontakt als andere Patienten. Dies untermauert die besondere Beeinträchtigung der Patienten und ist als Hilfemassnahme nicht zu kritisieren. Es sollte jedoch zügig ein Therapieplan aufgestellt werden, der die Opiatbefreiung des Patienten mit zum Ziel hat. Je länger die Patientin oder der Patient vor einer Operation an der Wirbelsäule (z.B. bei einem Bandscheibenvorfall oder einer Wirbelsäuleninstabilität) Opiate genommen hat, desto unwahrscheinlicher wird es, dass er diese Medikamente nach der Operation wieder los wird.
Wie auch schon in der Endoprothetik, kommt es unter opiatgewöhnten Patienten häufiger zu Wundheilungsstörungen und Infektionen. Außerdem sind neurologische Komplikationen (Lähmungen) und Probleme mit der Implantat-Fixierung (Lockerungen von Schrauben) häufiger. Es wurden gehäuft Probleme mit den Nieren und Thrombosen beschrieben.
Schafft man es, die Opiate 3 Monate präoperativ abzusetzen, dann nimmt auch das Risiko für derartige Komplikationen ab.
Was tun?
Das Verschreiben und Absetzen von Medikamenten erfolgt aus medizinischen Gründen. Daher ist es wichtig, dass sie ihre Medikation mit ihrem Arzt besprechen. Keinesfalls sollten sie selbständig eine laufende Opiatmedikation einfach abrupt beenden, da dies mit schweren Entzugserscheinungen einhergehen kann.
Wenn Sie gern weniger Schmerzmedikamente nehmen möchten, dann ist dies mit Arbeit verbunden. Einerseits ist es Gedankenarbeit, weil sie sich überlegen müssen, was Ihre Schmerzen lindert (nicht-medikamentös). Diese Information benötigt ihr Arzt, um mit Ihnen gemeinsam eine Strategie aus der Opiatmedikation heraus zu entwickeln.
Sollte ihr Arzt einer Dosisreduktion zustimmen, ist es außerdem mit Trainingsarbeit verbunden, um ihre Muskulatur langfristig leistungsfähig zu machen. Koordiniert könnte so etwas zum Beispiel im Rahmen einer Reha-Behandlung erfolgen. Erfolgt das Absetzen in Vorbereitung auf eine orthopädische Operation, könnte man dies als sogenannte Prehabilitation absolvieren, um den OP-Erfolg zu verbessern.
Bitte besprechen Sie mit ihrem behandelnden Arzt die Möglichkeiten, verweisen sie dazu gern auch auf die Ärzteversion dieses Artikels.
Berufstätigkeit und Opiate
Prinzipiell kann man auch unter einer bestehenden Opiattherapie seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen. Allerdings muss man sich bewußt sein, dass Konzentration und Aufmerksamkeit eingeschränkt sind. Dies schließt eine Tätigkeit in Schicht- oder Nachtarbeit und als Berufskraftfahrer aus.
Die Fahrtüchtigkeit muss nicht aufgehoben sein. Während der Einstellungsphase oder beim Wechsel von Dosis oder Präparat sollte man jedoch nicht als Fahrer eines Kfz am Straßenverkehr teilnehmen.