Adipositas – Aktuelle Empfehlungen für die konservative und medikamentöse Therapie

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Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die aktuellen Empfehlungen der S3-Adipositas-Leitlinie der AWMF.

Definitionen

Definition über den BMI

Rechner

KategorieBMIRisiko für Begleiterkrankungen des Übergewichts
Untergewicht< 18,5niedrig
Normalgewicht18,5-24,9durchschnittlich
Übergewicht≥ 25
Präadipositas25-29,9gering erhöht
Adipositas Grad I30-34,9erhöht
Adipositas Grad II35-39,9hoch
Adipositas Grad III≥40sehr hoch

Ergänzende Parameter

  • Waist-to-hip Ratio: Rechner. Birnenform (eher Frauen) ist günstiger als Apfelform (Männer).
  • Kinder: Perzentilenkurven
  • Sportler (Körperfettanalyse. BMI würde durch die Muskelmasse falsch hoch angesetzt)

Epidemiologie

Statistik: Anteil der Erwachsenen mit Übergewicht oder Fettleibigkeit in ausgewählten OECD-Ländern im Jahr 2021¹ | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Ursachen der Adipositas

  • familiäre Disposition, genetische Ursachen
  • Lebensstil (z.B. Bewegungsmangel, Fehlernährung)
  • ständige Verfügbarkeit von Nahrung
  • Schlafmangel
  • Stress
  • depressive Erkrankungen
  • niedriger sozioökonomischer Status
  • Essstörungen (z.B. Binge-Eating-Störung)
  • endokrine Erkrankungen (z.B. Hypothyreose, Cushing-Syndrom)
  • Medikamente (z.B. bestimmte Antidepressiva, Neuroleptika, Phasenprophylaktika und Antiepileptika; Antidiabetika, Glukokortikoide, einige Kontrazeptive, Betablocker)
  • andere Ursachen (z.B. Immobilisierung, Schwangerschaft, Nikotinverzicht)

Folgeerkrankungen der Adipositas

  • Koxarthrose, Gonarthrose und Rückenbeschwerden
  • Harnwegsinfekte
  • Krebserkrankungen
  • Hypertonie, Dyslipidämie, Koronare Herzkrankheit (KHK)
  • Schlaganfall
  • Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom
  • Typ 2 Diabetes mellitus (T2DM)

Gibt es eine metabolisch gesunde Adipositas?

  • Ja, aber nur übergangsweise
  • meist Frauen zwischen 35 – 40 Jahren.
  • zunehmendes Alter, zunehmende metabolische Einschränkungen
  • 60-jährige Frauen mit Adipositas: 10 % metabolisch gesund
  • 60-jährige Männer mit Adipositas: 5 % metabolisch gesund

Pathophysiologie

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist unser Körper auf

  • viel Bewegung (30 km/d)
  • wenig und unregelmässiges Essen

optimiert. Individuen, welche Fettreserven für Hungerepisoden aufbauen konnten, waren klar im Überlebensvorteil.

Bildquelle: rethinkobesity.global

Unser Energiehaushalt verarbeitet Signale aus dem Fettgewebe und den Verdauungsorgangen, um eine Balance aus Energieaufnahme und -verbrauch einzustellen. Diese unterliegen unserer willentlichen Kontrolle – moduliert durch den Hypothalamus und das mesolimbische System. Neben unseren Erbanlagen können Medikamente und die Umwelt sowie der Lustgewinn durch Nahrungsaufnahme (Hedonischer Input) diese Kontrolle beeinflussen. Ein Ungleichgewicht zugunsten der Energieaufnahme führt zu Adipositas.

Bildquelle: rethinkobesity.global

Therapie

Multimodales Therapieregime

  • Ernährung/ Verhalten/ Bewegung
    Ziel: Gewichtsreduktion ohne Stigmatisierung
  • Gewichtsbezogene Stigmatisierung ist definiert als die soziale Abwertung und Herabwürdigung von Menschen auf Basis ihres Übergewichts.
  • Verzicht negativer gewichtsbezogener Stereotype (z. B. Charakterisierung als faul, undiszipliniert, willensschwach, inkompetent, unmotiviert und non-compliant) 
  • Abbau von Vorurteilen (z. B. negative Gefühle wie Ärger oder Verhaltensreaktionen wie Vermeidung) und Diskriminierung

Prävention durch Änderung adipogener Umweltbedingungen

  • Fiskalische Instrumente („Zuckersteuer“, Preissenkung Obst/ Gemüse)
  • Nährwertkennzeichnung (NutriScore, Ernährungsampel)
  • DGE-Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung
  • verhältnispräventive Maßnahmen für Kindern und Jugendlichen
  • Gesetzliche Vorgaben für lebensmittelproduzierende Unternehmen bzw. Werbung
  • Verkehrspolitische und stadtplanerische Maßnahmen zur Förderung von Bewegung

Ernährung

Im Vordergrund der Beratung sollte das Ziel nach Kontinuität stehen. Gruppendynamische Effekte sollten sich hier zunutze gemacht werden (z.B. gemeinsames Kochen) und individuelle Bedürfnisse (z.B. Abneigung gegen bestimmte Nahrungsmittel) beachtet werden.

Kontraindikationen für Reduktionskosten <1000 kcal/d

  • Typ 1 Diabetes
  • Fortgeschrittene Nieren- bzw. Lebererkrankung
  • Herzinsuffizienz (NYHA III und IV)
  • Myokardinfarkt bzw. Schlaganfall in den letzten 12 Monaten
  • Herzrhythmusstörungen
  • Schwere respiratorische Insuffizienz
  • Missbrauch/Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen
  • Schwere Infektionen
  • Ältere Menschen mit Gebrechlichkeit

Verhaltensmodifikation

Ziel ist eine Lebensstiländerung.

  • Selbstbeobachtung von Verhalten und Fortschritt (Körpergewicht,Ernährung, Bewegung, Kontext und Funktion der Nahrungsaufnahme)
  • Stimuluskontrolle
  • Realistische Zielvereinbarungen
  • Verstärkerstrategien (z. B. Belohnung von Veränderungen)
  • Rückfallprävention
  • Strategien zum Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht
  • Soziale Unterstützung
  • Psychologische oder (kognitiv-)verhaltens-therapeutischen Behandlungsmethoden

Sport

  • 30 bis 60 Minuten körperlicher Aktivität am Tag
  • Verbrauch von 2000 bis 2500kcal/Woche
  • Ausdauertraining/ Krafttraining/ Intervalltraining
  • Geeignete Sportarten: Walking, Tai Chi, Aquagymnastik
  • Alltagsaktivität fördern

Medikamentöse Therapie

  • Orlistat (Hemmung der Fettresorption im Dünndarm)
  • Inkretin-Mimetika – (Glucagon-like Peptid)-GLP-1-Agonisten
  • Liraglutid (Handelsnamen: Victoza®, Saxenda®)
  • Semaglutid (Handelsnamen: Wegovy®, Ozempic®. )
  • Tirzepatid (Handelsname Mounjaro®)
  • Amphetamin Amfepramon nicht mehr verfügbar (Widerruf der Zulassung durch die Arzneimittel-Agentur EMA aufgrund des Risikos schwerer Nebenwirkungen)
Basistherapie + PlaceboBasistherapie + Liraglutid 3mg
ZielGewichtsreduktion > 5% (in 1 Jahr)
Ziel erreicht23%63%
Reduktion Taillenumfang-3,3cm
Abbruchrate++++
UAWÜbelkeit, Erbrechen, Diarrhoe, Anstieg der Lipase, Cholezystitis
Gewichtskontrolle nach 56 Wochen48,9%81,4%
Nach Absetzen der medikamentösen TherapieUnter Beibehaltung Basistherapie Gewichtszunahme 6,9 % der Gesamtgewichts
SELECT-Studie zur Wirksamkeit von Semaglutid

Ausblick

  • dualer Agonist: Tirzepatid (Aktivierung GLP-1-Rezeptoren und Rezeptoren des glukoseabhängigen insulinotropen Peptids (GIP)
  • Vergleichsdaten Semaglutid/ Tirzepatid: stärkere Gewichtsreduktion als Semaglutid (60 % Patient:innen, > 20 % Reduktion des Ausgangsgewichts)
  • Triple-Agonist: Retatrutid (Agonist an GLP-1-, GIP- und Glucagon-Rezeptoren)
  • Phase 2 Daten der Zulassungsstudien zur Gewichtsreduktion: Gewichtsreduktion > 30 % des Ausgangsgewichts
  • Retatrutid: 1x wöchentlich s.c Injektion
  • Entwicklungen von oral verfügbaren Arzneimitteln: z.B. Semaglutid 1x täglich oral, zur Therapie des T2DM in Europa bereits zugelassen
  • Voraussichtlich Langzeitbehandlung- Fehlen von Langzeitdaten!
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