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Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die aktuellen Empfehlungen der S3-Adipositas-Leitlinie der AWMF.
Definitionen
Definition über den BMI
Kategorie | BMI | Risiko für Begleiterkrankungen des Übergewichts |
Untergewicht | < 18,5 | niedrig |
Normalgewicht | 18,5-24,9 | durchschnittlich |
Übergewicht | ≥ 25 | |
Präadipositas | 25-29,9 | gering erhöht |
Adipositas Grad I | 30-34,9 | erhöht |
Adipositas Grad II | 35-39,9 | hoch |
Adipositas Grad III | ≥40 | sehr hoch |
Ergänzende Parameter
- Waist-to-hip Ratio: Rechner. Birnenform (eher Frauen) ist günstiger als Apfelform (Männer).
- Kinder: Perzentilenkurven
- Sportler (Körperfettanalyse. BMI würde durch die Muskelmasse falsch hoch angesetzt)
Epidemiologie

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Ursachen der Adipositas
- familiäre Disposition, genetische Ursachen
- Lebensstil (z.B. Bewegungsmangel, Fehlernährung)
- ständige Verfügbarkeit von Nahrung
- Schlafmangel
- Stress
- depressive Erkrankungen
- niedriger sozioökonomischer Status
- Essstörungen (z.B. Binge-Eating-Störung)
- endokrine Erkrankungen (z.B. Hypothyreose, Cushing-Syndrom)
- Medikamente (z.B. bestimmte Antidepressiva, Neuroleptika, Phasenprophylaktika und Antiepileptika; Antidiabetika, Glukokortikoide, einige Kontrazeptive, Betablocker)
- andere Ursachen (z.B. Immobilisierung, Schwangerschaft, Nikotinverzicht)
Folgeerkrankungen der Adipositas
- Koxarthrose, Gonarthrose und Rückenbeschwerden
- Harnwegsinfekte
- Krebserkrankungen
- Hypertonie, Dyslipidämie, Koronare Herzkrankheit (KHK)
- Schlaganfall
- Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom
- Typ 2 Diabetes mellitus (T2DM)
Gibt es eine metabolisch gesunde Adipositas?
- Ja, aber nur übergangsweise
- meist Frauen zwischen 35 – 40 Jahren.
- zunehmendes Alter, zunehmende metabolische Einschränkungen
- 60-jährige Frauen mit Adipositas: 10 % metabolisch gesund
- 60-jährige Männer mit Adipositas: 5 % metabolisch gesund
Pathophysiologie
Aus evolutionsbiologischer Sicht ist unser Körper auf
- viel Bewegung (30 km/d)
- wenig und unregelmässiges Essen
optimiert. Individuen, welche Fettreserven für Hungerepisoden aufbauen konnten, waren klar im Überlebensvorteil.

Unser Energiehaushalt verarbeitet Signale aus dem Fettgewebe und den Verdauungsorgangen, um eine Balance aus Energieaufnahme und -verbrauch einzustellen. Diese unterliegen unserer willentlichen Kontrolle – moduliert durch den Hypothalamus und das mesolimbische System. Neben unseren Erbanlagen können Medikamente und die Umwelt sowie der Lustgewinn durch Nahrungsaufnahme (Hedonischer Input) diese Kontrolle beeinflussen. Ein Ungleichgewicht zugunsten der Energieaufnahme führt zu Adipositas.

Therapie
Multimodales Therapieregime
- Ernährung/ Verhalten/ Bewegung
Ziel: Gewichtsreduktion ohne Stigmatisierung - Gewichtsbezogene Stigmatisierung ist definiert als die soziale Abwertung und Herabwürdigung von Menschen auf Basis ihres Übergewichts.
- Verzicht negativer gewichtsbezogener Stereotype (z. B. Charakterisierung als faul, undiszipliniert, willensschwach, inkompetent, unmotiviert und non-compliant)
- Abbau von Vorurteilen (z. B. negative Gefühle wie Ärger oder Verhaltensreaktionen wie Vermeidung) und Diskriminierung
Prävention durch Änderung adipogener Umweltbedingungen
- Fiskalische Instrumente („Zuckersteuer“, Preissenkung Obst/ Gemüse)
- Nährwertkennzeichnung (NutriScore, Ernährungsampel)
- DGE-Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung
- verhältnispräventive Maßnahmen für Kindern und Jugendlichen
- Gesetzliche Vorgaben für lebensmittelproduzierende Unternehmen bzw. Werbung
- Verkehrspolitische und stadtplanerische Maßnahmen zur Förderung von Bewegung
Ernährung
Im Vordergrund der Beratung sollte das Ziel nach Kontinuitätstehen. Gruppendynamische Effekte sollten sich hier zunutze gemacht werden (z.B. gemeinsames Kochen) undindividuelle Bedürfnisse (z.B. Abneigung gegen bestimmte Nahrungsmittel) beachtet werden.
- moderate Energiebegrenzung (-500 bis – 600 kcal)
- Reduktion der Fettzufuhr/ Kohlenhydratzufuhr
- Ernährung nach den 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE)
- Mediterrane Kost
- Vegetarische/vegane Ernährung
- Mahlzeitenersatzstrategie
- Intermittierendes Fasten
- Sehr niedrig kalorische Kostformen mit einer Energiezufuhr von < 800 bis maximal 1200 kcal nur bei medizinische Indikation
Kontraindikationen für Reduktionskosten <1000 kcal/d
- Typ 1 Diabetes
- Fortgeschrittene Nieren- bzw. Lebererkrankung
- Herzinsuffizienz (NYHA III und IV)
- Myokardinfarkt bzw. Schlaganfall in den letzten 12 Monaten
- Herzrhythmusstörungen
- Schwere respiratorische Insuffizienz
- Missbrauch/Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen
- Schwere Infektionen
- Ältere Menschen mit Gebrechlichkeit
Verhaltensmodifikation
Ziel ist eine Lebensstiländerung.
- Selbstbeobachtung von Verhalten und Fortschritt (Körpergewicht,Ernährung, Bewegung, Kontext und Funktion der Nahrungsaufnahme)
- Stimuluskontrolle
- Realistische Zielvereinbarungen
- Verstärkerstrategien (z. B. Belohnung von Veränderungen)
- Rückfallprävention
- Strategien zum Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht
- Soziale Unterstützung
- Psychologische oder (kognitiv-)verhaltens-therapeutischen Behandlungsmethoden
Sport
- 30 bis 60 Minuten körperlicher Aktivität am Tag
- Verbrauch von 2000 bis 2500kcal/Woche
- Ausdauertraining/ Krafttraining/ Intervalltraining
- Geeignete Sportarten: Walking, Tai Chi, Aquagymnastik
- Alltagsaktivität fördern
Medikamentöse Therapie
- Orlistat (Hemmung der Fettresorption im Dünndarm)
- Inkretin-Mimetika – (Glucagon-like Peptid)-GLP-1-Agonisten
- Liraglutid (Handelsnamen: Victoza®, Saxenda®)
- Semaglutid (Handelsnamen: Wegovy®, Ozempic®. )
- Tirzepatid (Handelsname Mounjaro®)
- Amphetamin Amfepramon nicht mehr verfügbar (Widerruf der Zulassung durch die Arzneimittel-Agentur EMA aufgrund des Risikos schwerer Nebenwirkungen)
Basistherapie + Placebo | Basistherapie + Liraglutid 3mg | |
Ziel | Gewichtsreduktion > 5% (in 1 Jahr) | |
Ziel erreicht | 23% | 63% |
Reduktion Taillenumfang | -3,3cm | |
Abbruchrate | + | +++ |
UAW | Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe, Anstieg der Lipase, Cholezystitis | |
Gewichtskontrolle nach 56 Wochen | 48,9% | 81,4% |
Nach Absetzen der medikamentösen Therapie | Unter Beibehaltung Basistherapie Gewichtszunahme 6,9 % der Gesamtgewichts |
Ausblick
- dualer Agonist: Tirzepatid (Aktivierung GLP-1-Rezeptoren und Rezeptoren des glukoseabhängigen insulinotropen Peptids (GIP)
- Vergleichsdaten Semaglutid/ Tirzepatid: stärkere Gewichtsreduktion als Semaglutid (60 % Patient:innen, > 20 % Reduktion des Ausgangsgewichts)
- Triple-Agonist: Retatrutid (Agonist an GLP-1-, GIP- und Glucagon-Rezeptoren)
- Phase 2 Daten der Zulassungsstudien zur Gewichtsreduktion: Gewichtsreduktion > 30 % des Ausgangsgewichts
- Retatrutid: 1x wöchentlich s.c Injektion
- Entwicklungen von oral verfügbaren Arzneimitteln: z.B. Semaglutid 1x täglich oral, zur Therapie des T2DM in Europa bereits zugelassen
- Voraussichtlich Langzeitbehandlung- Fehlen von Langzeitdaten!